Brief an einen zehnjährigen Autisten
Heute wurde ich auf ein tolles Tumblr aufmerksam, nämlich Briefe an einen Autisten, bei dem es um einen zehnjährigen autistischen Jungen geht, der offenbar mit seinem Autismus (noch) nicht wirklich glücklich ist.
Das kann ich sehr gut nachvollziehen, gerade aus der kindlichen Sichtweise, denn als zehnjähriger autistischer Asperger – Junge war ich auch über viele Dinge nicht wirklich glücklich – indirekt auch, dass es für mein Empfinden noch nicht einmal einen Namen gab, denn wirklich bekannt wurde das Asperger-Syndrom erst in den letzten ~15 Jahren- deutlich nach meiner Schulzeit.
Ich wusste und fühlte lediglich, das ich irgendwie anders als die anderen Kinder war. Dieses Gefühl hatte ich bereits seit der Zeit, seit ich den Kinderladen (Kindergarten) besuchte.
Damals, ich war gerade fünf Jahre alt, erhielt ich eine Einladung von einem anderen Kind zu seiner Geburtstagsfeier. Dieses Kind hatte alle Kinder der Gruppe zu sich nach Hause eingeladen- und so auch mich. Ich erinnere mich da heute noch so gut dran, weil das die einzige Einladung zu einem Geburtstag blieb – und zwar bis zum Ende meiner Schulzeit.
Die Einladungskarte zu dieser Geburtstagsfeier habe ich aufbewahrt wie einen kleinen Schatz, und erst, als ich bei meinen Eltern auszog habe ich sie dann letztlich doch entsorgt. Einfach, weil es mich traurig machte, wenn sie mir mal wieder in die Hände fiel. Und es mir andererseits seltsam erschien, als nunmehr 39-jähriger Mann noch immer eine Geburtstagseinladung von vor zig Jahren im Schrank liegen zu haben.
Während der Schulzeit – meinetwegen exemplarisch als zehnjähriger – aber eigentlich die ganzen Jahre über, hatte ich stets den Status als Sonderling weg. Mir erschien das Konstrukt der Clique, der Peergroup, der Freundeskreise oder wie auch immer man das nun nennen möchte als suspekt. Die Leute standen im Kreis auf dem Schulhof beisammen und unterhielten sich über in meinen Augen komplett belanglose, langweilige Themen: Über Autos, über Mode, über Kinofilme und ihre Lieblings- Stars, Schauspieler, Musiker und ähnliche Leute.
Über Dinge, die ich unheimlich spannend fand – Astronauten und Raumfahrt – wollte niemand reden. Es schien niemanden in meiner Schule zu interessieren, dass man in der Schwerelosigkeit trotzdem trinken kann, obwohl doch die Flüssigkeit in der Schwerelosigkeit im Magen herum- und die Speiseröhre wieder hinauf schweben müsste.
Als dann während eines fachübergreifenden Projektes einer der Schüler einen Kopfstand machen und dann was trinken sollte, fand ich das dann langweilig, denn mir war längst bekannt, dass Flüssigkeiten auch nach oben fliessen können- das war ähnlich wie in der Schwerelosigkeit. Unser Techniklehrer und der Biolehrer wollten uns auf diese Weise das Funktionsprinzip einer Schlauchpumpe (oder des Muskelstranges in der Speiseröhre) erklären.
Das fanden meine Mitschüler dann plötzlich äusserst spannend – was mich nachhaltig irritierte, denn wenige Wochen vorher habe ich mit denen darüber am Beispiel der Nahrungsaufnahme in der Schwerelosigkeit eigentlich auch sprechen wollen, stiess aber nur auf das erwähnte Desinteresse. Aber jetzt, wo es einer von ihnen selbst erlebte, jetzt war es auf einmal superspannend und nicht nur ein „Alter, das doch öde, lass uns mit deinem Weltraumquatsch in Ruhe“ wert, sondern erntete viele Ahs und Ohs.
Wo war ich stehen geblieben? Achja, das Rätsel um die Funktionsweise einer Peergroup, von Freundschaften. Es erschien mir seltsam, dass Dinge einmal als total öde und langweilig empfunden wurden, und einmal als super spannend – je nachdem, ob ich sie erzählte oder jemand, der in der Klasse nicht als seltsamer Typ verschrien war. Der Lehrer demonstrierte am Beispiel des angesehenen Schülers im Grunde genommen genau das, was ich vorher auch erzählen wollte – was deutlich weniger interessiert zur Kenntniss genommen wurde.
Es war (und ist!) für mich unheimlich schwierig bis unmöglich, so was wie Freundschaften zu schliessen, die über etwas hinausgehen, was man als Zweckgemeinschaft bezeichnen könnte. Freundschaften, die geschlossen werden, damit man Dinge überhaupt machen kann.
Ich habe früher gerne Schach gespielt, da brauchte es einfach jemanden, mit dem man das tun kann. Ich hatte also einen Freund, mit dem ich Schach zusammen spielte.
Als ich ungefähr 10 Jahre alt war, kamen zunehmend die ersten Computer in den privaten Bereich. Der Freund meiner Mutter hatte damals einen Commodore VC 20, ein klasse Gerät mit 5 Kilobyte Speicher und 16 Farben (davon bis zu 8 gleichzeitig!). Der sorgte dafür, dass gelegentlich mal ein Klassenkamerad zu mir nach Hause kam. Ich wollte mit dem darüber sprechen, wie ich Sprites über den Bildschirm wandern lassen kann – die wollten aber hauptsächlich damit spielen. So zerbrach diese „Freundschaft“ dann ähnlich schnell wie die Freundschaft, die ich mit dem Schachspieler geschlossen hatte – denn der hatte keine Lust, mit mir immer nur Schach zu spielen, sondern wollte auch mal andere Dinge tun – über Autos, Kinofilme, Modemarken und Stars reden. Für mich völlig langweiliger Kram… 😉
So lief das eigentlich immer… ich hatte immer nur „beste Freunde“, um bestimmte Dinge mit denen machen zu können – und zwar immer das gleiche mit dem jeweils gleichen Freund. Ich muss wohl in deren Augen wirklich etwas seltsam gewirkt haben, auf mich wirkten aber eher die anderen jeweils seltsam.
Ich entdeckte mich dabei, wie ich die anderen Kinder und ihr Spielverhalten beobachtete, um zu verstehen, wie das mit der sozialen Interaktion funktioniert, und versuchte es dann, mich genauso wie die zu verhalten – was aber nicht klappte. Eigentlich stiess ich immer entweder auf Ablehnung oder auf Desinteresse, wobei Desinteresse nur unwesentlich angenehmer als offene Ablehnung war. Bei offener Ablehnung wurde mir wenigstens meist noch mitgeteilt, weswegen man mich ablehnte… was bei Desinteresse oder Ignoranz nicht mehr der Fall war.
Irgendwann zog ich mich dann zurück, und blieb entweder in den Pausen in den Klassen oder sonst wo, wo ich für mich alleine war. Und damit das dann nicht ganz so seltsam wirkte, schnappte ich mir ein Buch. Das führte meist dann dazu, dass man mich in Ruhe lies – aber ich lies nicht in dem Buch, sondern beobachtete weiterhin die anderen Kinder, denn eigentlich wollte ich schon ganz gerne zu denen gehören, hatte es aber aufgegeben, weil ohnehin nichts dauerhaftes daraus wurde.
Später zog gar ein Klassenkamerad in die Wohnung über uns ein, eigentlich die idealsten Voraussetzungen für eine Freundschaft – aber ich war froh, wenn ich mit den Klassenkameraden nur während der Schulzeit zu tun hatte.
Hey, Du zehnjähriger autistischer Junge – ich kenne dich nicht – aber falls du während deiner Schulzeit ähnlich oft wie ich an diesem sozialen Spiel zwischen Freundeskreisen scheitern solltest wie ich es damals tat:
Lass dir gesagt sein – das bleibt nicht immer so.
OK, mir fällt es auch heute noch schwer, feste Freundschaften aufzubauen und vor allem dann auch noch aufrecht zu erhalten. Aber du hast einen riesigen, einen wirklich riesigen Vorteil gegenüber mir in meiner Schulzeit damals: Du weisst, warum du so bist, wie du bist. Du weisst, warum du Dinge so erlebst, wie du sie erlebst. Und ja, das wirft neue Fragen auf, ganz sicher.
Aber du wirst Lösungen dafür finden, da bin ich mir ganz sicher. Und dafür muss ich dich gar nicht kennen, denn das ist etwas, was mir immer wieder aufs Neue auffällt, jetzt, wo auch ich weiss, warum ich so war und bin, wie ich bin (und das weiss ich erst seit wenigen Jahren!)- wenn Autisten in etwas gut, wirklich gut sind, dann ist es, Lösungen für sich selbst zu finden, die das Leben für einen selbst angenehmer machen. Aber dafür muss man sich selbst akzeptieren, muss seinen Autismus akzeptieren – und damit dann auch akzeptieren, dass solche Lösungen vielleicht etwas andere Lösungen sind als die, die andere anwenden mögen. Unkonventionelle Lösungen.
Das mag während der Schulzeit eine schwere Lektion sein, wo es (vermeintlich) darum geht, Anerkennung von anderen zu bekommen, wo das eigene Ansehen davon bestimmt wird, was man für einen Freundeskreis hat, und wie man sich verhält, und wo vielleicht Dinge als uncool gelten.
Aber bitte, bitte kümmere dich nicht darum, was „cool“ ist. Diese coolen Dinge machen einen kaputt. Es macht auf Dauer überhaupt keinen Sinn, sich immer zu verstellen, nur um anderen zu gefallen. Mach dein eigenes Ding!
Akzeptiere, dass du anders bist. Das du anders empfindest, vielleicht andere Interessen hast, dich mit anderen Dingen beschäftigst oder andere Schwerpunkte setzt, was dir wichtig ist. Such dir Freunde nicht danach aus, ob es deine Klassenkameraden sind, sondern danach, ob sie deine Interessen teilen. Sich zu verstellen und Dinge zu tun, nur damit man die Freunde nicht enttäuscht, nur damit man sich so verhält, wie diese es erwarten, strengt unheimlich an. Nimm dir Pausen, wenn du sie benötigst. Pause von diesen normalen Freunden, denn Nichtautisten können manchmal unheimlich anstrengend sein, selbst dann, wenn sie die eigenen Interessen haben.
Die heutige Zeit bietet klasse (technische) Möglichkeiten, sich eine Art Freundeskreis anhand eigener Interessen aufzubauen – auch wenn es ungewöhnliche Interessen sind, die in der eigenen Klassengemeinschaft nicht geteilt werden. Irgendwo auf der Welt wird es jemanden geben, der Spass an dem hat, was man selbst gerne macht. Räumliche Entfernung spielt heute nicht mehr im gleichen Masse eine Rolle, als sie das damals bei mir tat. Ich stand mit meinem Weltrauminteresse damals relativ alleine da, weil sich auf meiner Schule und in der Wohnungsnähe sonst niemand dafür zu interessieren schien. Heute ist es ein leichtes, sich einen entsprechenden Kreis an Leuten aufzubauen, die sich für die gleichen Dinge interessieren. Das ist dann zwar was anderes als Freunde, die man jeden Tag sieht, aber es ist trotzdem wunderbar. So viele Freunde wie heute hatte ich während meiner ganzen Schulzeit nicht. Na gut, die Kommunikation läuft nicht mehr so ab, das man sich gegenseitig berühren könnte, aber zumindest kann man sich sehen und hören – oder man schreibt sich. Kein Ersatz für Freunde Vorort, aber doch zumindest eine Alternative. Und allemal interessanter als die, die sich über Autos, Kino oder ähnliches unterhalten wollen.
Hab Freude an dem, was du gerne machst. Und sei es nach der Meinung der Klassenkameraden noch so seltsam. Lass dich davon nicht irritieren, nicht abbringen von dem, was dir Spass macht. Nutze dein Wissen um dein Autismus, nutze die heutigen Möglichkeiten, um dich mit anderen auszutauschen. So, wie das indirekt nun mit diesen Briefen geschieht.
Autismus kann auch etwas wunderbares sein. Wenn man sich mit den Dingen beschäftigen kann, an denen man Freude hat – in den Bereichen entwickeln wir Autisten nämlich eine ziemliche Ausdauer, von denen Nichtautisten meist nur träumen können. Das sorgt zwar zum einen dafür, dass Freundschaften zerbrechen (weil wir für Nichtautisten uns zu lange mit einer einzelnen Tätigkeit beschäftigen können – über Weltraumflüge sinnieren, über Schachaufgaben knobeln), aber es kann auch dazu führen, dass man Experte auf einem Gebiet wird. Sich selbst das entsprechende Wissen und Können auf einem Gebiet aneignet.
Oder zumindest Fähigkeiten nutzen kann, die man (vermutlich aufgrund des Autismus) hat.
Fähigkeiten, die teilweise sehr störend sind, wenn viele Sinneseindrücke auf einen selbst einströmen (fehlende Filtermöglichkeit), die aber gleichzeitig trotzdem etwas wunderbares sind.
Fehlende Filtermöglichkeit für Sinneseindrücke kann bedeuten, dass zu viel gleichzeitig auf einen einströmt und man dann irgend wann womöglich in einen Overload gerät und sich zurückziehen muss. Sehr hinderlich und nervend, ja.
Es kann aber genauso auch bedeuten, dass einem selbst kleinste Veränderungen auffallen, die sich im Vergleich zu früher verändert haben.
Ich ziehe hier gerne fotografierend durch die Nachbarschaft. Dabei hilft mir mein Autismus, denn ich entdecke Motive, die andere so nicht sehen würden. Ich kann vielleicht schlecht filtern, was meine Augen mir ins Gehirn pusten, aber als Fotograf will ich gar nicht vorab filtern, sondern möchte gerne alles sehen, jedenfalls, bis ich mir ein Teilmotiv vom Ganzen ausgesucht habe.
Es ist super, wenn man wieder mal entdeckt, dass an der und der Stelle neue Aufkleber kleben, dass da ein tolles Graffiti entstanden ist – Dinge, die anderen im Großstadttreiben gar nicht mehr auffallen, im grossen Gewühl des Ganzen. Kleinigkeiten – von Nichtautisten werden sie übersehen, von Autisten, deren Gehirn anders funktioniert, wird weniger vorab unbewusst ausgefiltert, wir nehmen es ungefiltert wahr. Den sich kringelnden Regenwurm in der Strassenpfütze. Die Ameisenstrasse oder Honigbiene im Gras am Wegesrand. Die Kleinigkeiten, an denen andere unachtsam vorbei gehen – die mir aber direkt auffallen. Viele, viele Kleinigkeiten, die vielleicht gesammelt irgendwann in den Overload führen oder einfach nur anstrengend sind – aber bis das passiert, bis es mir zu anstrengend wird – habe ich das Foto längst gemacht. 😀
Hey, kleiner, zehnjähriger Autist – du weisst, warum du so bist, wie du bist. Du weisst wahrscheinlich sehr gut, was bei dir anders funktioniert als bei anderen. Weisst, was dir Schwierigkeiten bereitet, aber auch, was du gerne machst.
Jetzt liegt es an dir – nutze dieses Potential. Akzeptiere dich so, wie du bist und mache aus den Schwächen (Reizüberflutung z.B.) Deine Stärken (Blick auf ein Detail, die kleine Veränderung etc.).
Wandel deine Schwächen – Schwächen, die jeder hat, egal ob autistisch oder nicht – in deine persönliche Stärke um!
Und wahrscheinlich werden diese Stärken andere Stärken als die von Nichtautisten sein, denn als Autist ist man anders und wird es auch bleiben – aber wenn man das erst einmal akzeptiert hat, nennt man diese Schwächen dann nicht mehr Schwächen, sondern bezeichnet sie als Alleinstellungsmerkmal. Und dann klingt das auch für Nichtautisten gleich viel besser…
Akzeptiere dich so, wie du bist, nimm deinen Autismus als etwas zu dir gehörendes an. An als etwas, was manchmal doof ist – aber meist doch was wirklich tolles. Nämlich ab dem Zeitpunkt, ab dem Du dich so akzeptierst, wie du bist. Du bist in Ordnung! Total. Mit allem, was zu dir gehört, auch dem Autismus. Er macht dich zu dem, was du bist. Einem zehnjährigen Junge, dem andere Autisten, die ihn nicht einmal kennen, sogar Briefe schreiben. Meine Klassenkameraden haben damals sicher öfter Einladungen zu Geburtstagsparties als ich bekommen – aber ich glaube nicht, dass denen Leute Briefe schrieben, die sie nicht mal kannten.
Du bist Autist und du bist sicher anders als so viele andere in deiner Klasse oder Umgebung. Aber du bist nicht alleine.
hirnfurtz 02:06 am 30. April 2015 permalink |
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diepauliane 05:50 am 30. April 2015 permalink |
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Mueller7de 19:56 am 30. April 2015 permalink |
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Markierungen 05/01/2015 - Snippets 06:34 am 1. Mai 2015 permalink |
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